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Götz Adriani über Georg Friedrich Zundel

 

Entnommen aus dem Katalog der Kunsthalle Tübingen, der anlässlich einer dem Maler
Georg Friedrich Zundel gewidmeten Ausstellung 1975 gedruckt wurde

INFO: Im Text sind Links zu den angesprochenen Bildern versteckt!

 

Georg Friedrich Zundel als junger Mann in SillenbuchEin Künstler, der sich sehr bewußt mit den Problemen seiner Zeit befaßte und auch versuchte, dies in seinem Werk zu formulieren, war Georg Friedrich Zundel. Am 13. Oktober 1875 in Wiernsheim bei Maulbronn geboren, fühlte er sich schon früh den sozialen Forderungen verbunden, die diese Zeit an eine philiströse Gesellschaft herantrug. Dies mag der Hauptgrund gewesen sein für die Entscheidung, statt des Berufs des Handwerkers – den er zunächst in einem Dekorationsmalergeschäft im benachbarten Pforzheim und dann, nach der Gesellen- und Meisterprüfung im Frühjahr 1891, für kurze Zeit in Frankfurt ausübte – den des Künstlers zu ergreifen. Denn in der künstlerischen Tätigkeit sah Zundel, der einer traditionsreichen Bauernfamilie entstammte, eine Möglichkeit, sein humanitäres Engagement in einer ganz persönlichen Art und Weise zum Ausdruck zu bringen.

 

1892 führte ihn diese Absicht an die Kunstgewerbeschule in Karlsruhe und zwei Jahre später an die Kunstschule in Stuttgart. Dort wurde er Schüler Robert von Haugs und Jakob Grünenwalds. Deren Arbeiten freilich – seien es die bekannten Soldaten und Schlachtenbilder von Haug, der 1894 als Lehrer nach Stuttgart berufen worden war, oder die oft recht gefälligen Genreszenen aus dem Landleben Grünenwalds – blieben ohne direkten Einfluß auf den Studierenden. Ihre Wirkung betraf in erster Linie die Vermittlung der technischen Fertigkeiten. Daß Zundel nicht ganz unvorbereitet nach Stuttgart gekommen war, beweisen ein altmeisterlich glatt angelegtes Selbstbildnis, das noch aus der Karlsruher Zeit erhalten ist (Selbstbildnis), und ein Studienkopf eines alten Mannes, die erste Portraitarbeit an der Stuttgarter Schule, zur Genüge (Bildnis eines alten Mannes). Auffallend ist, wie Zundel von Anfang an der besonders in Stuttgart von den Freunden Hermann Pleuer und Otto Reiniger gepflegten schwäbischen Variante des Impressionismus und der Pleinairmalerei fernstand. Dies könnte auf die Schulung bei Haug zurückgehen, der stets ein Maler der Ateliertöne geblieben war, und seine Schüler hauptsächlich auf die feinen Abstufungen der Tonmalerei hinwies. Dagegen wird Grünenwald, trotz manch gefühlseliger Motive, als einer derjenigen genannt, die die realistische Komponente der schwäbischen Malerei begründeten. Zundels Hang zu realistischer Darstellungsweise könnte mit auf seine Anleitung zurückgehen.

 

Paula Zundel, die spätere Frau des Künstlers, schrieb anläßlich einer Gedächtnisausstellung 1948, über diese anregende Zeit an der Stuttgarter Kunstschule, die erst 1901 den Status einer Akademie erhielt: »Die Jahre auf der Akademie in Stuttgart waren nicht nur für die künstlerische, sondern auch für die geistige Entwicklung Friedrich Zundels von großer Bedeutung. Die kunstgeschichtlichen Vorlesungen von Professor Lübke und die literaturgeschichtlichen von Professor Weitbrecht gaben ihm reiche Anregung. Ein Kreis gleichgesinnter Studiengenossen zog den bisher so Einsamen in seinen Bann. In jener Zeit wurde das Band einer Lebensfreundschaft mit Felix Hollenberg geknüpft. Später gehörten zu seinem Freundeskreis unsere schwäbischen Maler Otto Reiniger, Hermann Pleuer, Graf Kalckreuth und Hermann Plock.

 

In diesen Studienjahren auf der Akademie kam Friedrich Zundel erstmals in Berührung mit der Ideenwelt des Sozialismus. Einer Aufforderung ihres Lehrers Weitbrecht folgend besuchten die Schüler der Akademie eine Versammlung August Bebels, dessen Persönlichkeit auf Friedrich Zundel einen großen Eindruck machte.

 

Die Studien Friedrich Zundels auf der Stuttgarter Akademie fanden 1896 ein vorzeitiges Ende. Aus Solidarität mit seinen Kollegen beteiligte er sich an einem Streik der Kunststudierenden. Durch die Teilnahme an diesem Streik verbaute er sich den Weg zu der ihm in Aussicht gestellten Professur. Mehr als ein Jahr ringt er hart um Anerkennung und Existenz . . . Es sind die Jahre der Malerei auf dunklem Hintergrund . . . In diesen Jahren, den letzten des vergangenen Jahrhunderts, ist Friedrich Zundel tiefer in die Ideenwelt des Sozialismus eingedrungen. Er gewann engere, ihn geistig anregende Beziehungen zu den Vorkämpfern dieser Bewegung in Deutschland und im Ausland.«

 

Wie sehr sich Zundel mit dem Kampf gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung identifizierte, das heißt in welch hohem Maße dies auch seine persönliche Haltung bestimmte, zeigt die enge, zunächst Jugendlich-schwärmerische Beziehung zu Clara Zetkin (geboren 1857 in Wiederau, gestorben 1933 in Archangelskoje bei Moskau). Diese Verbindung, die ihn verstärkt auf die Belange einer sozial unterentwickelten Wirklichkeit stieß, begann 1896, als sich die beiden Studenten Zundel und Hollenberg an die damals bereits anerkannte Sozialdemokratin wandten mit der Bitte um Unterstützung bei der Organisation des oben genannten Streiks. Die Lebensgefährtin des 1889 in Paris verstorbenen russischen Emigranten Ossip Zetkin lebte seit 1891 zusammen mit ihren Söhnen Maxim und Konstantin in Stuttgart, wo sie bis Mai 1917 Redakteurin der Zeitschrift »Die Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen« war. Als Friedrich Zundel auf Anordnung der Direktion die Kunstschule verlassen mußte, wo er als Meisterschüler ein eigenes Atelier und auch Aufträge erhalten hatte, war es Clara Zetkin, die mit Hilfe einiger Parteifreunde für das Unterkommen in der Eugenstraße 17 und für neue Arbeitsmöglichkeiten in einem Atelier in der Olgastraße 7 sorgte. Obwohl viele ihrer Freunde, darunter August Bebel, nicht gerade angetan waren von der Verbindung mit dem damals anfangzwanzigjährigen, mittellosen Maler, entschloß sich Clara Zetkin, trotz des Altersunterschiedes, jedoch mit Zustimmung der beiden Söhne, die sich mit Zundel herzlich angefreundet hatten, im November 1899 zur Eheschließung.

 

Daß sich relativ rasch die anfangs bedrohliche existentiell Lage durch diverse gut honorierte Aufträge gebessert hatte, dazu trug, neben einigen Auftraggebern aus dem Stuttgarter Raum, wesentlich der Dichter Sylvio della Valle di Casanova bei. Der italienische Aristokrat, der lange Zeit in Stuttgart lebte, hatte über seine kunstinteressierte Frau Zugang zur schwäbischen Malerei des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gefunden und sammelte mit großer Begeisterung. Er bat Zundel um eine Reihe von Standesportraits, die in ihrer psychologisch durchgefühlten Haltung anscheinend die volle Anerkennung des Marchese fanden und in einem eigens dafür hergerichteten Atelier im Park seiner Villa San Remigio in Pallanza gezeigt wurden.

 

Die Jahre um 1900, als sich der Künstler regelmäßig an den großen deutschen Kunstausstellungen und den Jahresausstellungen im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart beteiligte, können im ganzen als die ergiebigsten im Schaffen Georg Friedrich Zundels bezeichnet werden. Damals entstanden jene halb- und ganzfigurigen Arbeiter- und Handwerkerportraits, die ihn bekannt machten (Streik / Bildnis eines Schlossers). Zundels besondere Eigenart beruht in erster Linie auf der Ausschließlichkeit dieses Themas, das merkwürdig heterogen in der schwäbischen Umgebung des ausklingenden Naturalismus und der beginnenden Freilichtmalerei steht.

 

Nicht unerwähnt dürfen in diesem Zusammenhang allerdings jene wenigen, gleichzeitig gemalten Landschaftsstudien bleiben, die im kleinen Format Landstriche eigentlich nur andeuten. Obwohl ein ausgesprochener Fremdkörper in der auf die Figur konzentrierten Arbeit Zundels, gehören sie in ihrer skizzenhaften Anlage, in der freien Modulation und der motivischen Bescheidenheit mit zum schönsten, was der Künstler erfunden hat (Baumstudien).

 

Analysiert man die stattliche Zahl von Arbeiter- und Handwerkerbildnissen, die zusammen mit einigen fast lebensgroßen Darstellungen stehender oder sitzender alter Männer aus dem Spital zwischen 1899 und 1904 gemalt wurden, so fällt zunächst die Stille auf, der jede Tendenz zur sozialexpressiven Pathetik fehlt. Dies ist um so erstaunlicher, als Zundel während seiner Ausbildung in Stuttgart Werke Friedrich Kellers gesehen haben müßte. Keller hatte sich bekanntlich als einer der ersten im süddeutschen Raum in den späten 70er Jahren für das Bild des Schwerarbeiters interessiert. Seit 1887 Professor an der Stuttgarter Kunstschule, war er es auch, der die Freilichtmalerei in seiner schwäbischen Heimat bekannt machte. Es ist nahezu ausgeschlossen, daß der junge Zundel nicht berührt war von Kellers damals vielgenannten Steinbrecherdarstellungen in ihrer monumentalen Bildform.

 

Vielleicht aber war es gerade eine bewußte Abkehr von diesem kraftstrotzenden und naturbeherrschenden Aktionismus, die Zundel dazu brachte, sich mehr dem passiven. untätigen Menschen zuzuwenden. Friedrich Zundels wenig aufwendige Kunst, die sich einerseits einem regional bestimmten Realismus verpflichtet sah, auf der anderen Seite jedoch auch die damals noch kaum geläufigen Muster eines Meunier und Laermans für sich nutzte, ist nicht darauf angelegt, Bewegung und Aktion als Vorwand für meisterhafte Bravourstücke zu inszenieren. Sie ist vielmehr ausgesprochen sachlich und in der Lage, eine objektivierende Situation wiederzugeben. Was diesem thematischen Entwurf abgeht, ist jede sentimental-episodische Attitüde der Armut oder des mitleiderregenden Ausdrucks mit seinem unvermeidlich agitatorischen oder »prolet-kultischen« Etikett. Zur Darstellung kommt hingegen, realistisch und programmatisch zugleich, der Prozeß des Selbstbewußtwerdens eines Standes. Denn in der Monumentalisierung des Vorwurfes wandelt sich das Individuum zur typischen Persönlichkeit, ohne daß dabei allzuviel an Individualität verlorenginge.

 

Zundels Arbeiter ist weder der barrikadenstürmende Revolutionär noch ein Glied jener zu namenlosen Typen fixierten Gruppe, wie sie etwa bei Menzel, aber auch bei Liebermann, Zille und Keller auftritt; richtiger sieht man ihn als den um den Fortschritt Bemühten, der jeder Art äußerlicher Deklamation feindlich gegenübersteht.

 

Zundel, der sich als überzeugter Sozialist völlig mit den Hoffnungen und Ansprüchen der Dargestellten solidarisierte, entdeckte nicht die Welt des Arbeiters und kleinen Handwerkers; das taten im Laufe des 19. Jahrhunderts andere vor ihm: Als Beispiel sei hier nur an die 1910 von dem Kunsthistoriker Wilhelm Hausenstein als Titelblatt der »Arbeiter-Jugend« veröffentlichte Lithographie »Streik« von Théophile-Alexandre Steinlen erinnert. Haltung und Gestik des gleichnamigen, 1903 entstandenen Gemäldes Zundels (Streik) zeigen, bei allem Unterschied der Auffassung – hier Gruppe, dort monumentale Einzelfigur – eine enge thematische, geistige und zeitliche Vergleichbarkeit, ohne daß nun der Nachweis erbracht werden könnte, Zundel hätte die fünf Jahre vor ihm konzipierte Fassung Steinlens gekannt.

 

Was Friedrich Zundel für sich entdeckte, war das Bildnis des arbeitenden Menschen, herausgelöst aus seiner Umgebung, groß gesehen vor nahezu neutralem Grund. Der Aufbau ist unpreziös und erzielt in der Eigenart des großzügigen, oft auf einen zartfarbenen Grundton abgestimmten, Farbauftrags durchaus eine plastische Wirkung. Die pathetisch verklärende Sicht, das dunkel Allegorische der Bilder »Notschrei«, »Tote Jugend« und »Müde« sowie der Kohlezeichnungen von 1896 bis 1899 – aber auch jene Figurenbilder, die noch in manchem an die herkömmliche Genremalerei mit ihren vielfach abgeschmackten Sujets erinnern (Alte Spinnerin) – werden abgelöst von einer kühlen Sachlichkeit und strengen Analyse, die eine illusionslose Bildkonzeption bevorzugt; und das, ohne sich an moralisierende AlIerweltsrealismen oder jene Zeigefingerversimpelungen zu verlieren, die Franz Mehring treffend als »die berüchtigte Theorie von der schwieligen Faust« desavouierte. Alles Anekdotische wird eliminiert, das Artistische zurückgedrängt, um einer eindringlichen Form und Inhaltlichkeit zum klaren Ausdruck zu verhelfen. Die Geste ist zurückgehalten, auf ein Minimum an Äußerung konzentriert. Haltung und Habitus, die in ihrer Einfachheit auf ihre Weise der Farbe entsprechen, sind derart sachlich bestimmt, daß sie den Charakter sozialpsychologischer Definitionen annehmen; »wobei die Psychologie«, wie sich der Otto-Nagel-Biograph Erhard Frommhold ausdrückt, »in Zundels Bildern Selbstbewußtsein des Dargestellten einschließt, das dann von Freund und Feind als proletarisches Klassenbewußtsein erstanden wird.«

 

Der Zwang zu fast lebensgroßer Darstellung ist wie selbstverständlich; Mittelpunkt ist stets der Mensch, ohne Bezugnahme auf das erzählende Milieu; die statuarische Körperlichkeit füllt das Bild ohne jedes Beiwerk und ohne die aufgedunsenen Symbolismen, die Ideologen verschiedenster Couleur heute wenig erfolgversprechend, aber um so stetiger zu Tode reiten. Diese Portraits von Menschen, »die es wert waren gesehen zu werden«, wie sich Hausenstein 1913 rückblickend auf die Zeit um 1900 über die Arbeiten Hans Baluscheks, Friedrich Zundels und anderer sozialkritischer Zeitgenossen äußerte, gehören zu den ersten Versuchen, jene Wirkung zu erzielen, die, nach Georg von Lukács, »der Zusammenstoß der ästhetisch gespiegelten objektiven Wirklichkeit mit der bloßen Subjektivität des Alltags auslöst«.

 

Obwohl des öfteren die politische Überzeugung dem Fortkommen als Maler im Wege stand und das vor allem im Hinblick auf die Ehe mit Clara Zetkin, wie diese selbst einmal Franz Mehring gegenüber äußerte –, blieben diese eindringlichen Bildnisse nicht ohne Wirkung. Die offizielle Anerkennung blieb bei Ausstellungen in Paris, Brüssel, Wien und anderen Großstädten nicht aus. Eine Ausstellung in Berlin veranlaßte Rosa Luxemburg am 6. Januar 1902 zu einem Brief an Leo Jogiches, in dem sie schreibt, daß sie zusammen mit Franz Mehring eigens eine Ausstellung besucht habe, um »zwei Bilder von Zundel anzuschauen.« Auf eine Präsentation in München  1904 folgte sogar der Ruf an die dortige Akademie, dem Zundel jedoch aus persönlichen Gründen – wohl mit Rücksicht auf seine Frau – nicht nachkam.

 

1903 konnte das Ehepaar Zundel die enge Wohnung in der Blumenstraße 34 aufgeben, um ein neuerbautes Landhaus in Stuttgart-Sillenbuch zu beziehen. Dieser ländliche Wohnsitz in der alten Kirchheimer Straße 14 war im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts ein überaus gastfreundliches, ja man kann sagen weltoffenes Haus. Denn neben den Stuttgarter Partei- und Künstlerfreunden – darunter Felix Hollenberg und der Stuttgarter Rechtsanwalt Hugo Faißt, der Freund und hervorragende Interpret Hugo Wolfs – waren es die internationalen Führer der sozialistischen Organisation, die sich hier des öfteren aufhielten. Zu dem Freundeskreis des Hauses gehörten unter anderen die Mehrings, August Bebel und Karl Liebknecht, Ottilie Baader, Karl und Luise Kautsky, die russische Revolutionärin Alexandra Kollontaj, Julian Marchlewski mit seiner Frau Bronislawa und nicht zuletzt Wladimir Iljitsch Lenin, der 1907 während des ersten in Deutschland veranstalteten Weltkongresses der II. Internationale in Sillenbuch Station machte. Auch ein Matrose des legendären Panzerkreuzers Potemkin hielt sich für einige Zeit bei den Zundels versteckt. Der liebste Logiergast war Rosa Luxemburg, die häufig in das damals einsam gelegene Landhaus mit Garten kam, wo eigens eine Mansarde für sie freigehalten wurde, um sich bei den Freunden zu erholen. Als sich Friedrich Zundel 1907 ein Auto anschaffte, schrieb sie begeistert aus dem Gefängnis in der Berliner Barnimstraße an Ciara Zetkin: »Auf das Autosausen jeden Abend und Morgen freue ich mich schon diebisch. Dein Dichter (Spitzname Zundels) hat wahrhaft dichterische Einfälle, wenn er nur dabei nicht pleite macht.«

 

Die Familie Robert Bosch kannten die Zundels bereits aus ihrer Stuttgarter Zeit. Robert Bosch lebte seit 1891 in der Rotebühlstraße 145. Im gleichen Haus entwarf damals Karl Kautsky, der aus London zurückgekommene Privatsekretär Friedrich Engels, die Grundlinien des Erfurter Programms der Sozialdemokratie, Im Haus Nr. 147 wohnte Clara Zetkin unter ihrem Mädchennamen Clara Josefine Eißner mit ihren Söhnen von 1891 bis 1899. Aus dieser unmittelbaren Nachbarschaft erwuchs eine Freundschaft, die auch späterhin fortbestand. So unterstützte der auf sozialem Gebiet äußerst fortschrittliche Industrielle, der bereits 1894 in seiner noch relativ kleinen Werkstatt den neunstündigen Arbeitstag eingeführt hatte, durch die Vermittlung Clara Zetkins eine große Zahl von Bolschewiki, die nach dem Duma-Aufstand 1905 Rußland verlassen mußten und im Einvernehmen mit Lenin Mitglieder der Stuttgarter Sozialdemokratischen Parteiorganisation geworden waren, indem er sie in den Bosch-Werken unterbrachte. Auch versäumte es Robert Bosch nicht, in den Jahren 1907 und 1908 seine Kinder Margarete, Paula und Robert von dem befreundeten Maler portraitieren zu lassen (Bildnis Paula Bosch): »Frau Anna Bosch wünschte ihre heranwachsenden Töchter von einem Künstler malen zu lassen, dessen Bilder mit lichter Farbigkeit und kräftig-zartem Duktus des Pinsels sie auf einer Ausstellung beeindruckt hatten. Der Maler war Friedrich Zundel, einer der auch organisatorisch führenden Männer des Stuttgarter >Künstlerbundes<. Neben den Bildnissen, die aus einer früher dunklen Tonigkeit sich zu einer durchsichtigen Helle herausgearbeitet hatten, konnte man von ihm in jenen Jahren große Kohlestudien, auch ausgeführte Gemälde, sehen, die die Erscheinung des modernen Arbeiters in einer gewissen repräsentativen Typik zu geben wußten. In den Realismus war ein Stück Bekennertum gemengt . . . Zundels den Kaufgenossen helfend zugewandter Sinn vermochte eine freundschaftlich fördernde Teilnahme an dem Schaffen der Stuttgarter Künstler zu wecken. Das Verhältnis von Bosch zu den Arbeiten der bildenden Kunst ist nicht ursprünglicher Natur. Dies gefiel ihm und jenes nicht; gegenüber ästhetisierenden Werte-Analysen, und mochten sie noch so beredt sein, war er mißtrauisch. Aber er hatte Sinn für handwerkliches Können und redliche Gesinnung, und er war bereit, wo Würdigkeit vorlag, zu helfen . . . Sammlertum als solches, sei es vom Besitztum, sei es von einem historischen Gruppengefühl genährt, lag ihm gänzlich ferne, in jeder Sparte . . . Zundels Anregung nun führte ihn dazu, schöne Werke der damals führenden Stuttgarter Meister zu erwerben: Pleuer, Reiniger, später Landenberger und Goll. Er liebte es, wenn ein Stück persönlicher Erinnerung sich den Bildern vermählte; so kamen wesentlich Landschaftsbilder zusammen.«

 

Wie sehr das Zusammenleben mit Georg Friedrich Zundel in kunst- und literaturgeschichtlicher Hinsicht anregend auf Clara Zetkin wirkte, beweist die Tatsache, daß sie sich damals in Vorträgen und Artikeln im kulturellen Teil der von ihr redigierten Zeitschrift verstärkt mit Fragen der marxistischen Literatur-wissenschaft, der Musik und der bildenden Künste beschäftigte. Ihre kritischen Aufsätze zu Schiller und Ibsen, Björnson, Freiligrath und Richard Wagner wurden bekannt und viel gelesen. Häufig ist die Rede von langen Diskussionen der Eheleute, nicht nur über aktuelle politische Fragen, sondern auch über die Problematik eines politisch engagierten Künstlers und dessen Produktion. Das unverkennbar von Zundel geprägte Ergebnis dieser intensiven kunsttheoretischen Auseinandersetzungen faßte Clara Zetkin in dem 1911 ebenfalls in der »Gleichheit« erschienenen und gleichzeitig als Broschüre vom Verlag des Stuttgarter Bildungsausschusses herausgegebenen Aufsatz mit dem Titel »Kunst und Proletariat« zusammen. In diesem für die sozialistische Kunsttheorie grundlegenden Artikel sowie in ihrem sehr viel später erschienenen Hauptwerk »Erinnerungen an Lenin« begegnen sich exemplarisch die ästhetischen Vorstellungen der deutschen Sozialdemokratin mit denen Lenins. Und es ist sicherlich nicht zu weit gegangen, wenn man annimmt, daß Lenins engagierte Beschäftigung mit der Frage nach Kunst und Proletariat manche Anregung durch diese Abhandlung erhalten hat. Zugrunde lag dieser wichtigsten Arbeit Clara Zetkins auf dem Gebiet der Kunst ein Ende 1010 gehaltener Vortrag vor dem Bildungsausschuß der Stuttgarter Arbeiterschaft. Sie schrieb darüber Franz Mehring: »Ich tat das auch, um meinem Mann eine Freude zu bereiten. Ich verdanke ihm für Arbeit, Denken und Genießen auf dem Gebiet der Kunst unendlich viel.«

 

Die vielseitigen parteipolitischen Aktivitäten Friedrich Zundels – der die Partei sowohl beratend im Bildungsausschuß als auch praktisch durch Entwürfe für Plakate und die Ausgestaltung von Heimen und Sälen unterstützte –, aber auch die ständige Diskussion über Sinn und Zweck künstlerischen Schaffens innerhalb des politischen Kampfes, mögen mit dazu beigetragen haben, daß sich der Künstler 1907 entschloß, seine Arbeit drastisch einzuschränken und an keinen Ausstellungen mehr teilzunehmen. Hinzu kam, daß seine bestimmte Art der Realitätsauffassung, die teilweise nach Fotovorlagen vorging, in ständigem Widerspruch stand zu der für ihn bürgerlichen Entwicklung der modernen Kunst zu Beginn des Jahrhunderts. Vielleicht spielte auch das Verdikt des Freundes Franz Mehring eine Rolle, der in Zundel »einen hochbegabten Künstler« sah und dennoch jene Prioritäten setzte, die in dem Satz gipfelten: »Wenn die bürgerliche Klasse in Deutschland ihr Heldenzeitalter auf künstlerischem Gebiet gehabt hat, so doch nur, weil ihr der ökonomische und politische Kampfplatz verschlossen war. Dagegen steht dieser Kampfplatz dem modernen Proletariat wenigstens bis zu einem gewissen Grade offen, und es ist ebenso natürlich wie notwendig, daß es hier seine Kräfte zusammenfaßt. Solange es in diesem heißen Kampfe steht, kann und wird es keine große Kunst aus seinem Schoße gebären.«

 

Der Disput über proletarische Kunst als moralischer Wertbegriff und Möglichkeit einer neuen sozialistischen Kunstsicht, hinter der sich verschiedene politische Konzeptionen der Arbeiterbewegung verbargen, fand 1910 im »Vorwärts« und anderen linksgerichteten Organen ihr öffentliches, gegen ein orthodoxes System sozialdemokratischer Bildungs- und Kulturpolitik gerichtetes Forum. Wilhelm Hausenstein, der as junger Sozialdemokrat häufig in der »Arbeiter-Jugend« oder in den sozialistischen Monatsheften schrieb, und enger Mitarbeiter Mehrings im Feuilleton der »Neuen Zeit« war, gehörte zu den Wortführern dieser Auseinandersetzung: »Wir Sozialisten haben die Überzeugung, dem Herzschlag der

zeitgeschichtlichen Entwicklung am nächsten zu sein«, äußerte er sich 1012 emphatisch. Er stand in regem Briefwechsel mit Zundel, dessen Arbeiten er zu den wenigen Beispielen einer brauchbaren sozialdemokratischen Bildtradition rechnete; »denn«, so schreibt er in der »Arbeiter-Jugend«, »wir sind in Deutschland nicht reich an demokratischen und an sozialistischen Künstlern . . . Tritt bei uns in Deutschland ein künstlerischer Geist mit sozialistischen Kunstwerken hervor, dann ist es eine Ausnahme«. Des öfteren bemühte sich Hausenstein über das Werk Zundels zu berichten, dessen Wirkung er – wie auch der von Clara Zetkin geförderte Arbeiterdichter Otto Krille (Beilage zur "Arbeiter-Jugend") – als Vorbild eines sozialdemokratischen Kunstverständnisses hervorhob.

 

Dieser ganzen Euphorie stand Friedrich Zundel skeptisch gegenüber; sie bewirkte anscheinend gerade das Gegenteil. Die Folge war, daß er sich mehr und mehr von dieser Seite des damals aktuellen Kunstbetriebs zurückzog. Äußerliches Anzeichen für eine Veränderung, die in ihm vorging, war ein nun stärker werdendes Interesse für die Möglichkeiten der Freilichtmalerei. Dies allerdings nicht in einem impressionistisch-atmosphärischen Sinne, sondern in einer Form, die der lichterfüllten Farbfläche mehr zu ihrem Recht verhilft und sich mit einem eigentümlichen Hang zum Dekorativen verbindet (Der Mäher). In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg ergab sich jedoch noch eine andere Wandlung. Die Erfahrungen einer auf die soziale Wirklichkeit gerichteten Bildwelt traten nun zunehmend hinter fernen Idealen zurück. Die auf einer tiefverwurzelten ethischen Grundhaltung basierende Sehnsucht nach dem Humanen überspielt jetzt jene Wirklichkeit, die in den Arbeiterbildern ihren überzeugendsten Ausdruck gefunden hatte. Besonders deutlich wird die Zurücknahme des Realen zugunsten idealisierender Stilisierungen in Farbstudien und ersten Skizzen zu den Themen »Morgen«, »Odipus bei Kolonos«, und nicht zuletzt zu jenem anspruchsvollen Motiv des »Wehe dir Jerusalem«, einer auf den Krieg bezogenen Idee, die auf einem verlorengegangenen Entwurf von 1914 beruht und lediglich in einem kleinen Pastell von 1923 erhalten ist (Wehe Dir Jerusalem). Gemeinsam ist all diesen, aus einem stark philosophisch-literarisch geprägten »Erlösungsgedanken« heraus entstandenen, Bildinhalten, zu denen in späteren Jahren noch die Beschäftigung mit jenen historischen, mythischen und religiösen Wegbereitern wie Spartakus, Prometheus und nicht zuletzt auch Christus kam, das Thema des Leidens, Erduldens und Überwindens.

 

In diesem Zusammenhang muß gesagt werden, daß sich Zundel gerade damals, in dieser für ihn persönlich so betreffenden Zeit der Wandlung, seiner Grenzen bewußt wurde und dies auch später niemals verleugnete. Die Kritik, daß der so erfolgversprechende Maler des proletarischen Schicksals im politisch entscheidenden Moment ausgewichen sei ins individualistische Portrait beziehungsweise ins scheinbar unverbindlich Mythologische und Religiöse, mag manchem berechtigt erscheinen. Die Ursache dafür ist jedoch zu vielschichtig und kann, da aus einer sehr persönlichen Situation heraus entstanden, heute nicht mehr genau nachvollzogen werden. Äußere Gründe, wie eine gewisse existentielle Sicherheit oder das allmähliche Auseinanderleben, die Trennung und schließlich 1928 die Scheidung von Clara Zetkin, die 1919 auf der Liste der unabhängigen sozialdemokratischen Partei Mitglied der Verfassunggebenden württembergischen Landesversammlung wurde und im Jahr darauf in den deutschen Reichstag einzog, mögen als Argumente treffen; inwieweit sie entscheidend waren, sei dahingestellt. Stichhaltiger dürfte für Zundel die Angst davor gewesen sein, für eine direkte propagandistische Aussage oder politische Allegorie mißbraucht zu werden. Denn dies widersprach völlig seiner Vorstellung von Kunst als sozialem und humanem Ideal. Es ist die sozialistische Auffassung des Künstlers selbst, die von Zundel in Frage gestellt wurde oder besser sein Mißtrauen gegen die Theorie in ihrem Anspruch auf unumstößliche Wahrheiten, was jene langwierige Krise auslöste, aufgrund der das Werk im ganzen als Fragment zurückbleiben sollte. Denn es ist auffallend, wie der Künstler nun immer häufiger vor dem entscheidenden Schritt der endgültigen Realisation einer Bildidee zurückschreckte.

 

Behindert durch die schrecklichen Ereignisse des Weltkrieges, an dem er, der überzeugte Pazifist, freiwillig als Sanitäter teilnahm, wagte Zundel in den Jahren danach erneut den Versuch, sich mit Bildinhalten auseinanderzusetzen, die dieser Zeit im Grunde nicht mehr eigen waren. Um der Idee eines persönlich geprägten humanen Engagements willen mußte seine idealistisch bestimmte Menschlichkeit das zeitgenössische künstlerische Wollen aus den Augen verlieren. Eine unbedingte Ehrlichkeit sich selbst und seiner Arbeit gegenüber brachte den Künstler, der nie im Vordergrund gestanden war, der sich seit 1907 um keine Öffentlichkeit mehr kümmerte und die gesicherte Laufbahn des Akademielehrers ausgeschlagen hatte, dazu, sich in verstärktem Maße jenem Beruf zuzuwenden, dem er entstammte: der bäuerlichen Arbeit auf einem von ihm selbst entworfenen und bis in die baulichen und künstlerischen Details hinein konzipierten Gutshof bei Tübingen, wo er nun seinen Wohnsitz nahm, zusammen mit seiner zweiten Frau Paula Bosch.

 

Obwohl Friedrich Zundel, der 1948 in Stuttgart starb, nur noch wenig zum Malen kam, nahm er sich doch immer wieder die vor dem Krieg begonnenen Themen vor, in denen er sich besondere Ausdrucksmittel für seinen idealistischen Drang erhoffte. So sollte das Triptychon »Morgen«, in dem das Motiv des Werdens und Vergehens symptomatisch anklingt, die Krönung seines Lebenswerkes werden – wie so vieles blieb es Fragment (Morgen) Aber auch andere Themen wie das Prometheus-Motiv (Prometheus) die Kreuzigung (Kreuzigung) und Pieta (Pieta) wurden in Angriff genommen, wobei es oft der Wunsch nach dem Monumentalen war, den die Form nicht mehr in der Lage war zu tragen. Die Linie wird zum bestimmenden Element dieser Bildentwürfe, in denen die großen, statischen Formen dominieren. So fügte sich in den 20er und 30er Jahren jene Fülle von Einzelstudien, von Skizzen in Kreide, Aquarell und Kohle, sowie jene großformatigen, zurückhaltend in der Farbe angelegten Entwürfe zu einer Thematik sinnbildlicher Gestalten zusammen. Diese standen in ihrer mythischen und religiösen Umsetzung ebenso fremd in einer Zeit wie jene physiognomisch eindringlichen, oft scheuen und nachdenklich ernsten Arbeiterportraits in den ersten Jahren des Jahrhunderts.

 

Zundels uneitles Ringen um eine Bildidee, in deren Mitte immer der Mensch steht, verdient wegen seiner inneren Konsequenz Respekt; auch im Bewußtsein, daß ein derart großangelegter und aus der Isolation heraus geborener Entwurf nicht durchgehalten werden konnte. Die Diskrepanz zwischen dem realistischen und idealistischen Anspruch war zu groß.

 

Seinen ständigen Ort hat das Werk Georg Friedrich Zundels, dank einer Stiftung von Frau Paula Zundel und Frau Dr. Margarete Fischer, seit 1971 in der Kunsthalle Tübingen.

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Text: Götz Adriani / Fotos: Franziska Adriani

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